Kultur

Tanzdoppelabend „Battleground“ am Staatstheater Kassel

Unter der Oberfläche


(Quelle: Sylwester Pawliczek )
(Quelle: Sylwester Pawliczek )
GDN - Mit dem Tanzdoppelabend „Battleground“ präsentiert das Staatstheater Kassel die beiden renommierten Choreograf:innen Ashley Lobo aus Indien und Hou Ying aus China und somit zwei ferne Tanzsprachen, die ungewohnte Sichtweisen und Ästhetiken eröffnen und vom Publikum starken Applaus ernten.
Ein überdimensionales Eisengitter, in dessen Mitte ein Loch gerissen wurde, schwebt über der Bühne (Markus Meyer) des Staatstheaters Kassel. Der Titel des Abends „Battleground“ legt die Vermutung nahe, ein Geschoss könne diese Öffnung hervorgerufen haben. Sind die Tänzer:innen auf dem Bühnenboden ebenfalls hindurch gestürzt oder waren sie schon immer dort unten? Oder blicken wir durch die Öffnung einer Membran in das Innere eines Körpers? In jedem Fall befinden wir uns unterhalb der Oberfläche.
Aus den Lautsprechern hallt ein undefinierbares Rauschen (Sounddesign: randomhype), in das ebenso wie in die in sich verschlungenen Tänzer:innen auf der Bühne, die in ihrer anfänglichen Haltung an Akrobat:innen des chinesischen Nationalzirkus erinnern, nach und nach Leben kommt. Später erwächst ein Sound, der an Meerestiefen oder die Ursuppe denken lässt, bevor Atemgeräusche und schließlich Worte zu vernehmen sind. Hier ist Leben entstanden.
„Zelle“ ist das erste Stück des Tanzdoppelabends betitelt, in dem der Grundbaustein des Lebens im Zentrum steht. Zellen entstehen, erschaffen Leben und sterben. Sie erfüllen unterschiedlichste Funktionen, wachsen und teilen sich, unterstützen und bekämpfen sich, unterscheiden uns voneinander und verbinden uns gleichermaßen. Die Zelle als Metapher für zentrale Fragen zum Dasein zu nutzen, liegt auf der Hand.
Hou Ying, eine der renommiertesten Choreografinnen Chinas und mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnete Künstlerin, sei zu dem Thema inspiriert worden, als ihr Vater an Krebs verstarb und sie sich infolgedessen mit dem menschlichen Körper und seinen Zellen beschäftigt habe. Das Ergebnis des Prozesses ist eine beeindruckende Mischung aus westlichen und östlichen Einflüssen mit hochästhetischen organischen Bewegungen, spannungsreichen Wechseln zwischen hinabsinkenden und emporstrebenden Gesten in für unsere Sehgewohnheiten oftmals sehr langsam sich entwickelnden Phrasen, bevor sich die Tänzer:innen unter starkem Applaus des Publikums zu einem Zellklumpen vereinen.
Quelle: Sylwester Pawliczek
Quelle: Sylwester Pawliczek
Quelle: Sylwester Pawliczek
Das zweite Stück des Abends trägt den Titel „Dharma“ und fragt nach den Regeln unseres Zusammenlebens und den Werten, die uns verbinden können. Dharma umfasst im Hinduismus und Buddhismus unter anderem Gesetze, Gebräuche, ethische Verpflichtungen und Werte und ordnet das Leben in vielgestaltiger Art und Weise, ohne dass die Inhalte wie etwa die Zehn Gebote im Christentum klar definiert und schriftlich festgehalten sind, denn der entsprechenden Philosophie zufolge kommen jedem Wesen andere Pflichten zu, die es jeweils zu erkennen gilt.
Für den indisch-australischen Choreografen Ashley Lobo bedeutet Dharma das Verstehen, wer wir sind, welches unser Platz im Universum ist und wie wir mit diesem verbunden sind. Der international gefeierte Künstler hat für zahlreiche Kinofilme und Theaterstücke Choreografien entwickelt und ist zudem ein international gefragter Lehrer, der die von ihm konzipierte choreografische Technik Prana Paint™, die Bewegung durch Yoga und Atem erforscht und Tänzer:innen „menschlicher, statt zu technischen Maschinen“ mache, vermittelt.
Somit erlebt das Publikum im zweiten Teil des spannenden Tanzabends das Aufeinandertreffen westlicher Bewegungsmuster mit indischer Spiritualität. Es wird entführt in eine magische Welt der Selbstfindung - begleitet vom abwechslungsreichen Sounddesign von Donato Deliano, das indische Elemente beinhaltet und auch bewusste Momente der Stille umfasst. Es ist ein kraftvolles Stück, das gar einen Hauch von Bollywood durch das nordhessische Staatstheater wehen lässt.
Quelle: Sylwester Pawliczek
Quelle: Sylwester Pawliczek
Quelle: Sylwester Pawliczek
„Tanz ist Leben. Selbst wenn die Welt stillsteht, tanzt sie. Man muss nur zuhören, wirklich zuhören. Ich sehe Tanz in jedem Atemzug. In dieser Welt gibt es nur mich, das Universum und den Tanz – unzertrennbar. Eine vollständige Harmonie von Farbe, Rhythmus, Bewegung und Bildern, in der ich alles sehe, aber nichts verstehe“, beschreibt Ashley Lobo sein Verständnis von Tanz.
Es ist großartig, dass Hou Ying und Ashley Lobo ihre Tanzsprache dem Kasseler Publikum präsentieren können und diesem ihre Fragen an das Dasein - basierend auf ihrer jeweiligen Herkunft und gemachten Erfahrungen - kunstvoll und ästhetisch näherbringen und somit neue Perspektiven unterhalb der Oberfläche eröffnen.
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